FORUM MAGAZIN: Yoga Serie 6/6

Teil 6: Und jetzt: Atmen – der Schlüssel zur Meditation

Der Atem ist der grundlegendste Prozess des Lebens und spiegelt unser inneres Erleben. Besonders deutlich wird das in Stressmomenten, wenn wir wütend schnauben, traurig schluchzen oder schmerzvoll die Luft anhalten. In diesem Teil der Yoga-Serie lernen Sie die Grundlage für die Meditation über die natürliche Atmung.

Zum Original Beitrag im FORUM (27/2020)

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IIn den ersten fünf Teilen dieser Serie haben wir uns mit dem bekanntesten Aspekt des Yogas beschäftigt: den Körperübungen. Doch diese sind überwiegend ein Kind des Westens; in der alten Tradition steht eine andere Arbeit im Fokus. Sie ist feiner und subtiler, gleichwohl kraftvoll und intensiv. Gemeint ist die Arbeit mit dem Atem. Der Atem ist die Verbindung zwischen Körper und Psyche, denn er hat einen direkten Einfluss auf die Aktivität unseres Nervensystems.

Die Brückenfunktion des Atems zeigt sich in der ursprünglichen Lehre, dem Yogasutra, das einen achtgliedrigen Pfad zur Selbsterkenntnis und Befreiung beschreibt. Erst, wenn wir die unteren Stufen gemeistert haben, öffnen sich die geistigen Welten. Die ersten beiden Stufen beschäftigen sich mit dem Umgang mit sich selbst und anderen. Sie werden im Yogaunterricht eher ausgespart. Körperkult verkauft sich besser als Tipps für ethisches Verhalten. Die dritte Stufe dreht sich um die Körperübungen, die Asanas, gefolgt von Pranayama, wie die Atemarbeit genannt wird. Sie unterstützt die höheren Stufen: den Rückzug der Sinne, Konzentration, Meditation und schließlich eine tiefe Versenkung.

Doch längst sind Atemübungen und Meditation in der Mitte der Gesellschaft angekommen und aus dem achtgliedrigen Pfad herausgelöst. Krankenkassen und das betriebliche Gesundheitsmanagement empfehlen sie zur Erhaltung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit. So ist bewiesen, dass eine regelmäßige Meditationspraxis Stresshormone senkt, Depressionen lindert, die Zellalterung verlangsamt, Entzündungen bekämpft und das Schmerzempfinden verringert. Man macht sich schon lange nicht mehr lächerlich, wenn man verschiedene Meditations-Apps auf seinem Smartphone hat und sich morgens ein paar Minuten auf ein Kissen setzt.

Doch was ist eigentlich Meditation? Eine einheitliche Definition existiert nicht und das Angebot ist riesig: von Achtsamkeits- über Geh- und Schüttelmeditation bis bin zu dynamischer und stiller Meditation, Mantrameditation und Kontemplation. Welche Technik zu Ihnen passt, hängt von Ihren Motiven ab. Nicht für jeden ist es der richtige Weg. Auch in alltäglichen Momenten wie beim Kochen oder beim Spaziergang können Sie achtsam sein – mit wohltuender Wirkung.

Im yogischen Sinne ist nicht jede Achtsamkeitsübung gleich Meditation. Wenn wir etwas achtsam tun, richten wir unsere Aufmerksamkeit voll und ganz auf den gegenwärtigen Augenblick. Das schult unseren Geist und fördert unsere Konzentration – gute Voraussetzungen, um einen meditativen Zustand zu erreichen. Auch Entspannungsübungen wie Fantasiereisen sind eher als Vorstufe zu verstehen. Denn nur ein entspannter Geist und Körper sind in der Lage, sich tief nach innen zu versenken und in einen „Seins-Zustand" einzutauchen.

Achtsamer Umgang mit den Gedanken

Meditation beschreibt einen Bewusstseinszustand, in dem der Meditierende ganz bei sich ist – ohne etwas Bestimmtes zu tun oder zu erwarten. Dieser Zustand lässt sich anhand von Gehirnfrequenzen messen und fühlt sich erheblich anders an als das Tagesbewusstsein. Wie genau, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich und tagesformabhängig. Es kann sich nach Ruhe und Frieden anfühlen, manchmal kommen neue Einsichten und manchmal geschieht das genaue Gegenteil. Gedanken sausen im Kopf, Schmerzen im Rücken zeigen sich, Wut und Ängste kommen hoch. Und dann?

Es gibt zwei Möglichkeiten, mit solch frustrierenden Situationen umzugehen. Wie immer im Leben haben Sie die Wahl. Entweder schmeißen Sie das Handtuch oder Sie lernen, sich selbst auszuhalten und sich einfach mal in Ruhe zu lassen. Meditation bedeutet nämlich nicht Gedankenleere, das ist ein weit verbreitetes Missverständnis. Stattdessen entwickeln Sie einen achtsamen Umgang mit den Gedanken. Sie lernen, sie zu beobachten, anstatt sich darin zu verstricken. Yoga ist ein radikaler Weg, nicht vor sich wegzulaufen, sondern sich selbst besser kennenzulernen. Es geht darum, allen Befindlichkeiten mit Offenheit und Akzeptanz zu begegnen.

Der Grund, warum Yoga und Meditation so wirkungsvoll sind, ist vermutlich die universelle Fokussierung auf die Atmung – unabhängig vom Yogastil. Die wenigsten Menschen haben im Alltag einen natürlichen, sanft fließenden Atem. Häufig ist er unrhythmisch oder chronisch verstärkt. Manche Menschen atmen paradox, sie ziehen beim Einatmen den Bauch ein anstatt ihn in der natürlichen Atembewegung nach außen zu wölben. Das Problem dabei: Das Nervensystem ist alarmiert und latent im Angriffs- oder Fluchtmodus.

Anstelle komplizierter Pranayama-Techniken, sollte es zu Beginn erst mal darum gehen, den Atem wieder bewusst wahrzunehmen, zu spüren und fließen zu lassen. Über diese Form der Achtsamkeit erkennen wir, dass alle unangenehmen Wahrnehmungen kommen und gehen – eben wie der Atem. Wir erfahren, dass wir über den Atem einen Einfluss auf unsere körperliche und emotionale Erregung und selbst die Turbulenzen im Geist haben. Sobald wir einen bewussten Atemzug nehmen, verändert sich etwas in uns. Wir übernehmen die Kontrolle über unsere Aufmerksamkeit, weil andere Hirnareale angesprochen sind. Wir aktivieren das parasympathische Nervensystem, was uns entspannen lässt. Die einfache Formel lautet: ein ruhiger Atem ist gleich einem ruhigen Geist.

Atemübungen und Meditation funktionieren hervorragend ohne spirituellen Zusammenhang. Dagegen ist nichts einzuwenden. Doch atmen und meditieren wir im Rahmen des Yogas, so kommen wir um eine höhere Dimension nicht herum. Übersetzt bedeutet Prana nicht nur Atem. Dasselbe Wort meint gleichzeitig Geist und das Leben selbst.


Übungen, mit denen wir den Atem wahrnehmen und die Meditation lernen

Übung 1: Der einfache Sitz „sukhasana" für eine einfache Atemwahrnehmung (circa 5-10 Minuten)

Sie sitzen mit aufrechter Wirbelsäule bequem auf einem Kissen mit gekreuzten Beinen. Alternativ auf einem Stuhl. Heben Sie sanft den Brustkorb und lassen Sie die Schultern sinken.

Bringen Sie Ihre Aufmerksamkeit zu Ihrem Atem. Lassen Sie den Atem so, wie er ist. Sie mischen sich nicht aktiv ein. Kein Tun. Sie beobachten nur: Der Atem darf langsam, schnell, groß, klein, gleichmäßig oder unrhythmisch sein. Der Atem spiegelt genau das wider, was ist. Er wird von selbst ruhiger werden – nur durch die Kraft Ihrer Aufmerksamkeit.

Wenn Ihre Gedanken schnell abschweifen, dann sagen Sie innerlich ein einfaches Mantra: „Ich atme ein. Ich atme aus." Damit begleiten Sie den Fluss Ihrer Atmung und bleiben im gegenwärtigen Moment. Machen Sie aus der Atembeobachtung kein Problem für den Verstand. Dieser hat Pause. Sie kommen immer wieder zurück zum Atem.

Nach einiger Zeit werden Sie bemerken, dass Sie langsamer und ruhiger atmen. Sie können zu Übung zwei weitergehen oder noch einige Minuten in Stille mit Ihrer Atmung sitzen.


Übung 2: Die Vorbeuge „Paschimottanasana“ (circa 1 Minute halten) 

Diese Übung können Sie sitzend oder liegend machen. Nehmen Sie sich Zeit, um zur Ruhe zu kommen, zum Beispiel mit einer Entspannungsübung wie in Teil 1 dieser Serie beschrieben. Zuerst legen Sie Ihre Hände auf den Bauch und entspannen Ihre Bauchdecke. Spüren Sie in diesen Bereich hinein und nehmen Sie bewusst wahr, wie sich die Bauchdecke mit der Atmung bewegt. In der Einatmung weitet sich die Bauchdecke und mit der Ausatmung schwingt sie zurück. Wenn Sie möchten, können Sie die Ausatmung verstärken, indem Sie den Nabel in Richtung Wirbelsäule fallen lassen. Bleiben Sie geduldig, am Anfang kann es schwer sein, den Atem hier zu spüren. Verweilen Sie im Bauchraum – für circa acht Atemzüge.

Nun legen Sie die Hände auf die Rippenbögen und Flanken. Dieser seitliche Atemraum ist im Alltag häufig ungenutzt. Nehmen Sie die Bewegung des Atems hier wahr und spüren Sie, wie sich einatmend die Rippenbögen zu den Seiten ausdehnen und wie sie ausatmend zurückschwingen. Die Einatmung schenkt innere Weite. Die Ausatmung bleibt passiv. Sie schauen dem Atem beobachtend zu – für circa acht Atemzüge.

Nun legen Sie die Hände auf den Brustkorb. Dieser Bereich ist emotional empfindsam und fasst weniger Atemvolumen. Die Atmung soll auch hier unangestrengt fließen, also bleiben Sie sanft mit sich. Nehmen Sie einatmend wahr, wie der Brustkorb sich hebt und lassen Sie ein Gefühl von Weite bis unter die Schlüsselbeine entstehen. In der Ausatmung entspannen Sie sich. Verweilen Sie im Brustraum – für circa acht Atemzüge.

Nun nehmen Sie sich Zeit, um nachzuspüren, die Hände liegen dort, wo Sie möchten. Wie fühlt sich der Atem an? Wenn Emotionen oder andere Wahrnehmungen kommen, lassen Sie diese zu und atmen Sie weiter. Der Atem macht das Feste wieder fließend. Ruhen Sie nach, solange Sie möchten.

Sinah Müller